Wenn ein Rechnungskopf von „Spezereien“ und „schwarze[m] Thybeth“ berichtet – ein Gemischtwarengeschäft in Bissingen an der Enz und sein Angebot im Jahr 1872

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Illustrierte historische Briefköpfe und auch Rechnungsköpfe von Unternehmen gelten mittlerweile als eine wichtige kunst- und wirtschaftsgeschichtliche Quelle. Sie erlebten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis etwa Mitte des letzten Jahrhunderts eine Blütezeit. Im Blickpunkt des Interesses stehen dabei die aufwändig gestalteten Objekte.

Die einfacheren Briefköpfe stehen dabei weniger im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Tatsächlich enthalten gerade diese wichtige Informationen. Liefern sie doch oft Hinweise auf kleinere Unternehmen und Geschäfte, von denen es sonst keine oder wenig Überlieferung gibt und daher jede Nachricht wertvoll ist.

Im Stadtarchiv findet sich solch eine Rechnung mit einem schlicht gestalteten Kopf. Er bietet interessante Einblick in das Wirtschaftsleben Bissingens im 19. Jahrhundert.

Die Rechnung gehört zu einer sogenannten Pflegschaftsakte. Damals übernahmen die Gemeinden die Sorge um elternlose Kinder oder auch um Witwen, also um Personen die (damals) nicht die volle Geschäftsfähigkeit besaßen. In vorliegenden Fall ging es um die am 1. November 1858 geborene Caroline Wilhelmine Gußmann aus Untermberg, die ihre Eltern verloren hatte und als deren Vormund ein Christian Scholl fungierte. In dieser Funktion musste Scholl über seine Tätigkeit Rechenschaft ablegen. Der dazugehörige Schriftverkehr wurde in einer Akte gesammelt, die jetzt die Archivsignatur UB 399 trägt.

In der Akte findet sich auch besagte Rechnung aus dem Jahr 1872. Sie stammte aus dem Geschäft der „Gebrüder Wagner“ aus Bissingen an der Enz. Diese betrieben seit 1864 dort einen Laden mit einem „Vollständige[n] Assortiment“ (Zusammenstellung) an Waren wie es auf dem Kopf der Rechnung heißt.

Die Waren werden auf dem Rechnungskopf ausführlich aufgeführt. Zunächst kommen die ungesunden Produkte. Es fängt an mit „ordinären und feinen Cigarren“. An Alkohol wurde „Arac“ (Anisschnaps), „Rhum, Cognac, Liqueure, Frucht-, Trester- & Zwetschgen-Branntweine“ offeriert. Dazu kamen „Kirschen-, Heidelbeer- & Weingeist.“ Unter dem Begriff „Spezerei-Waaren“ fielen damals Lebensmittel des gehobenen Bedarfs beziehungsweise Importwaren wie Kakao, Zucker, Kaffee u.a. Auch „Glas & Porzellan“ konnte bei Wagners gekauft werden.

Nicht im Laden direkt sondern in einem Lager wurden Textilwaren bereit gehalten. Es gab „Tuch“ und „Bouc’askins“, damit ist Buckskin gemeint. Es handelte sich dabei um einen elastischeren geköperten Wollstoff, der beispielsweise gerne für Hosen genommen wurde. Köper ist eine der drei Grundbindungsarten für gewebte Stoffe. Dann boten die Gebrüder auch „Flanelle, Lama & c.“ an. Das „& c.“ steht hier für „und Ähnliches“.

Geheimnisvoll hört sich folgende Warenbezeichnung an: „farbig und schwarzen Thybeth“. Es handelte sich dabei um einen weichen Stoff aus Merinoschafwolle. Tibet hat keine glänzende Appretur (Gewebeveredlung) und ist gleichfalls ein geköperter Stoff. Dieser Stoff wurde gerne für Kleider oder Mäntel verwendet.

Auch das nächste Angebot ist erläuterungsbedürftig. Es wird nämlich „Kleider- & Bett-Barchent aus eigener Fabrikation“ aufgeführt. Bei Barchent handelte es sich um ein dichtes, festes Köpergewebe entweder aus reinem Baumwollstoff oder auch aus einem Baumwoll-Leinen-Mischgewebe. Bett-Barchent deshalb, weil die unter dem Bezug des Oberbetts sich befindlichen Stoffhüllen für die Bettfedern aus solchem Gewebe hergestellt wurden. Was es mit der eigenen Herstellung auf sich hatte, konnte nicht ermittelt werden. Nicht erklärungsbedürftig hingegen ist das restliche Angebot: „Strickwaaren- aller Art, Web- & Strickgarn“.

Wie ging es weiter mit dem Geschäft? Nun wenige Jahre später hatte der Laden dann nur noch einen Besitzer, denn auf einer Rechnung von 1875 findet man das Wort „Gebrüder“ ausgestrichen und stattdessen ein „C.“ Alleinige Besitzer war jetzt allem Anschein nach Karl Constantin Wagner.

Im Alter von 71 Jahren hat Karl Constantin Wagner dann 1914 den Laden an Fritz Kirschner verkauft. Der Enz-Metter-Bote, welcher den Verkäufer fälschlicherweise ein Jahr älter machte, schrieb dazu: „Herr Wagner, 70 Jahre alt und seine Ehefrau, 68 Jahre, haben ein reiches Arbeitsfeld hinter sich und ist ihnen nach langer Tätigkeit ein ruhiger Feierabend zu gönnen. Dem Nachfolger Glück und Segen zur Uebernahme.“ Wenige Jahre später mitten im Krieg ist Karl Wagner dann am 29. August 1917 gestorben.

Die Familie Kirschner betrieb den Laden dann etwa bis zum Zweiten Weltkrieg. 1952 bis 1961 war hier die Enz-Apotheke von Markus Otto. Schließlich wurde das Gebäude 1965 abgerissen und das heutige 1968 eingeweihte Bissinger Rathaus darauf errichtet.

Und was wurde aus Caroline Wilhelmine? Nun sie heiratete wenig später am 23. November 1876 den Schuhmacher Heinrich Leiser aus Heilbronn. Damit endete für sie die Vormundschaft der Gemeinde Untermberg und begann sogleich die nächste Abhängigkeit, denn damals waren Ehefrauen nicht voll geschäftsfähig.