Das Untermberger Impfbuch von 1817

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In den Beständen des im Stadtarchiv lagernden Ortsarchiv von Untermberg findet sich ein Band aus dem Jahr 1817. Auf dem Buchdeckel steht: „Untermberg. Oberamt Vaihingen. Impfbuch. Angefangen im Merz 1817“.

Der Band sieht unscheinbar und auch etwas mitgenommen aus, doch steht er für ein spannendes und wichtiges Kapitel der Medizingeschichte. Denn in diesem Dokument, dessen Einträge bis zum 3. Dezember 1872 datieren, wurden die Pockenschutzimpfungen in der Gemeinde eingetragen. Das 18. Jahrhundert „war in Europa ein Zeitalter der Pocken“. Etwa 80 Prozent (!)der Bevölkerung machten diese Krankheit durch. In Preußen beispielsweise starben daran 40.000 Menschen bzw. 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung jährlich. Es gab dabei regionale Häufungen, so war beispielsweise im Zeitraum 1772-1796 in Stuttgart durchschnittlich etwa bei 7,4 Prozent aller Gestorbenen die Pockenkrankheit die Todesursache gewesen. Viele Genesene waren durch die Narben, welche die Pusteln hinterließen, entstellt. Die Pusteln wurden auch häufig als Blattern bezeichnet und da die Krankheit häufig Kinder befiel, sprach man auch von den „Kinderblattern“.

Dr. Jenner und die erste moderne Pockenschutzimpfung

Das Untermberger Impfbuch ist ein Zeugnis für die Schnelligkeit medizinischer Entwicklungen in der Neuzeit. Nicht einmal zwei Jahrzehnte zuvor hatte der englische Arzt Dr. Edward Jenner (1749-1823), der Begründer der modernen Pockenimpfung, im Jahr 1796 erstmals eine wissenschaftlich begleitete Schutzimpfung mit Kuhpockenerregern (Vakzination) durchgeführt (von lat. Vacca, dt. Kuh).

Der Erfolg einer Impfung zeigte sich durch eine schwache Infektion, in deren Verlauf meist einige Pusteln bei der Einstichstelle sichtbar wurden. Gab es keine Reaktion, dann galt die Impfung als ein Misserfolg. Dank der Erfolge verbreitete sich die Impfmethode in Windeseile und schon 1799 wurde in Weikersheim eine Vakzination durchgeführt (1801 Stuttgart).

Zunächst waren es im Königreich Württemberg Privatinitiativen von Ärzten, welche die neue Impfmethode einführten und propagierten. Doch wenig später griff der Staat ordnend ein. Ein herzogliches Reskript vom 5. Januar 1803 regelte, dass nur noch Chirurgen (nichtakademische Ärzte) unter der Aufsicht des Physikus (Oberamtsarztes) Pockenimpfungen durchführen durften und dass die Impfungen und ihr Ergebnis in Tagebüchern festzuhalten waren. Dann wurde das Vorgehen des Staates energischer und in der „General-Verordnung, die Errichtung von Schutz-Pocken-Impfungs-Anstalten, und andere Verfügungen gegen Verbreitung der Kinderblattern betreffend,“ vom 16. April 1814 wurde u.a. den Kindern von Armen eine kostenlose Impfung in öffentlichen „Impfanstalten“ gewährt. Vor allem durften künftig durften nur noch geimpfte oder genesene Kinder in öffentliche Schulen eingeschult werden.

Vom indirekten Impfzwang ging der württembergische Staat Jahr 1818 per Gesetz zum direkten Impfzwang für heranwachsende Kinder über. Alle ab dem 1. Januar 1817 geborene Kinder waren künftig in das Impfbuch einzutragen.

Mit einem Fehleintrag beginnt das Impfbuch

Das Untermberger Impfbuch wird also erst zwischen der Veröffentlichung des Gesetzes im Jahr 1818 und den ersten Impfungen angelegt worden war. Die ersten Impfaktionen, die dort dokumentiert sind, fanden am 7. und am 14. September 1820 statt, als der Bissinger Wundarzt Friedrich Weihermüller sieben Kinder impfte. Auch wenn die Impfungen formal nicht korrekt abgelaufen waren, weil der obligatorische Zeuge gefehlt hatte, wurden sie später anerkannt.

Beim ersten Eintrag überhaupt war dann auch ein Fehler unterlaufen, denn beim ersten im Jahr 1817 (27. März) in Untermberg geborenen und im Impfbuch auch als erstes aufgeführte Kind mit Namen Johannes Walter, Sohn eines Gemeinderats, war der 15 Juli 1821 als Impftermin eingetragen worden. Das war später korrigiert worden (Bild 2). Tatsächlich gehörte er zu den sieben Kindern, die durch Weihermüller geimpft worden waren.

Der Aufbau des Buches orientierte sich am Gesetz von 1818 und umfasste Spalten für: Geburtsdatum, Name der Eltern bzw. des Vaters, des Kindes, Datum der Aufforderung zur Impfung, Tag der Impfung oder Ausbruch der Krankheit, Name des Impfarztes und des Zeugen, Erfolg der Impfung, Ursachen des Misserfolgs bei der Impfung oder der Unterlassung. Eine von der Gemeinde bestimmte Person führte das Impfbuch.

Wichtig war die Spalte über den Impferfolg bzw. –misserfolg. Im Laufe der Zeit wandelten sich die Einträge. Wurde zunächst eine erfolgreiche Impfung mit „vollkommen“ oder „regelmäßig“ beschrieben, so wurden die Einträge Mitte der 1820er Jahre aussagekräftiger. So zeigte die am 24. Juni 1827 im Alter von knapp einem Jahr geimpfte Christine Regine Heubach „8 vollkommen Pusteln“ (Bild 3), während auf dem Körper des am 7. Juni 1829 geimpften Johann Jakob Brust nur „2 Blattern“ zu sehen waren. Die Bezeichnungen wurden also auch jetzt nicht immer durchgehend verwendet.

Gründe für die Nichtdurchführung von Impfungen

Impfkomplikationen lassen sich leider nicht anhand des vorliegenden Bandes nachvollziehen. In der letzten Zeile steht hin und wieder der Begriff kränklich, doch er bezieht sich nur auf den Grund für die Nichtdurchführung einer Impfung. So heißt es bei der am 16. Mai 1854 geimpften Rosine Christine Daub, dass sie „kränklich“ sei. Das bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf den ersten nicht wahrgenommenen Impftermin im Mai 1853, weswegen sie erst beim zweiten Impftermin geimpft werden konnte. Bei dem am 11. Juni 1863 geimpften Gottfried Wilhelm Daub, der mit sechs Pusteln auf die Impfung erfolgreich reagiert hatte, steht in der letzten Spalte „gestorben“. Da dieser aber am 30. Oktober 1864 wegen einer Zahnerkrankung gestorben war, ist dies keine Folge der Impfung gewesen.

Für die Ermittlung von Impfrisiken muss man auf andere Quellen zurückgreifen, beispielsweise auf statistisches Material, das ganz Württemberg betrifft. Demnach wurden von 1854 bis 1868 insgesamt 579.675 Impfungen durchgeführt, dabei ereigneten sich innerhalb des Zeitraum von 14 Tagen nach der Impfung 308 Todesfälle (1:1882). Wobei vier Todesfälle nach damaligen wissenschaftlichem Stand im Zusammenhang mit einer Pockenschutzimpfung standen, das gibt statistisch hochgerechnet 6,9 Todesfälle auf eine Millionen Impfungen. Unmittelbare Todesursache war der Rotlauf (Wundrose, Erysipel) gewesen, eine durch Bakterien ausgelöste Hautinfektion. Die Entzündung der Pusteln waren dabei das Problem gewesen. Zum Vergleich: Die Kindersterblichkeit war in Württemberg um 1871 hoch und lag bei der Altersgruppe 2-7 Jahre bei 2,43 Prozent, jene bei Kindern im ersten Lebensjahr jedoch bei 35 Prozent (!).

Bis zum endgültigen Sieg über die Pockenkrankheit war es ein langer Weg mit vielen Rückschlägen. Erst mit dem Reichsimpfgesetz 1874 war dann die Zweitimpfung endgültig eingeführt. 1980 schließlich war die Krankheit ausgerottet.

 

Quellen, Hilfsmittel:

Artikel: Pocken, in: de.wikipedia.org/wiki/Pocken <23.11.2021>.

Artikel: Rotlauf, in: www.fitundgesund.at/wundrose-artikel-855 <2.12.2021>.

Familienregister Untermberg 1854 ff (Mikrofilmkopie aus dem Landeskirchlichen Archiv Stuttgart)

Sammlung der württembergischen Gesetze, hg. v. A. L. Reyscher. Bde. 14, 15/1.Tübingen 1843, 1846.

Untermberg. Oberamt Vaihingen. Impfbuch. Angefangen im Merz 1817, Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen, Signatur Ub 365.

Württembergisches Regierungsblatt (1818), S. 389-394.

 

Literatur:

Cless, G.:Impfung und Pocken in Württemberg. Stuttgart 1871.

Jütte, Robert: Zur Geschichte der Schutzimpfung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (46-47/2020) [https://www.bpb.de/apuz/weltgesundheit-2020/318298/zur-geschichte-der-schutzimpfung <23.11.2021>]

Vasold, Manfred: Pest, Not und schwere Plagen – Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991.

Wolff, Eberhard: Einschneidende Maßnahmen – Pockenschutzimpfung und traditionelle Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 10). Stuttgart. 1998.